Sand verschiebt sich innerhalb einer Wintersaison, Flachs entstehen spontan und werden von der nächsten Sturmflut wieder weggebaggert. Die Wassertiefe wechselt beständig, es kommt häufig zu starken Strömungen und Kreuzseen. Das ist der Grund, weshalb das Wattenmeer landschaftlich so reizvoll, aber nautisch auch heute noch so gefährlich ist. Allein rund um Terschelling sollen Hunderte Schiffe auf Grund liegen.
Vom Opfer des damaligen Herbststurms ist bald schon nichts mehr zu sehen: Die Brandung, so beschreiben es zeitgenössische Quellen, zerschlägt die Lutine nach dem Schiffsuntergang in kürzester Zeit – vor gut 223 Jahren am 9. Oktober 1799. Und das Wrack wird schon nach wenigen Jahren im Schlick verschwunden sein.
„Ich fürchte sehr, dass ihre Mannschaft umgekommen ist“
„Sir, mit größtem Unbehagen muss ich Ihnen das traurige Schicksal der Lutine melden, die am 9. dieses Monats in einem schweren NNW-Sturm auf die äußere Bank der Durchfahrt vor Vlieland gelaufen ist“, berichtet Commander Nathaniel Portlock zerknirscht dem Flottenkommando nach England. „Und ich fürchte sehr, dass ihre Mannschaft bis auf einen einzigen Mann, der sich auf einem Wrackteil retten konnte, umgekommen ist“, endet der zuständige Befehlshaber der britischen Streitkräfte auf der Insel Vlieland.
Seine Vermutung weicht bald trauriger Gewissheit: Nur ein einziger Mensch hat den Schiffsuntergang überlebt. Die Toten werden im Verlauf der nächsten Wochen am Strand von Terschelling angeschwemmt, etwa 200 sollen namenlos in einem Grab zu Füßen des Brandaris-Leuchtturms bestattet sein.
Nur Skynner und zwei seiner Offiziere erhalten eigene Gräber auf dem Inselfriedhof. Bei dem Überlebenden soll es sich um einen Passagier handeln. Seine Aussage zum Hergang der Katastrophe ist verschollen, denn ein Brand beim Versicherer Lloyd’s wird 39 Jahre später neben vielen anderen auch den Untersuchungsbericht dieses Schiffsunglücks vernichten.
Die See hat die Karten neu gemischt
Commander Portlock hat noch eine weitere Vorahnung: „Ich werde jede Anstrengung unternehmen, um aus dem Wrack zu retten, was ich kann. Aber aufgrund der Lage, in der sich das Schiff befindet, fürchte ich, dass sich nur wenig bergen lassen wird.“ Auch hier trifft er ins Schwarze. Seitdem sprießen die Legenden. Immer wieder versuchen Glücksritter, das verschwundene Gold und Silber aus den Mahlsänden vor Vlieland und Terschelling zutage zu fördern. Die Resultate sind mager.
Und so würde sich das Engagement auch heute noch lohnen: Nach historischen Angaben hatte die „Lutine“ Barren und Münzen im Wert von 1,2 Millionen Pfund Sterling an Bord. Davon konnte einiges im Lauf der Jahrhunderte immer wieder stückweise heraufgeholt werden.
Doch rund eine Million soll noch in 15 bis 20 Meter Tiefe liegen. Irgendwo da draußen. Die Untergangsstelle ist zwar bekannt, doch unzählige Stürme haben die Sände durchgepflügt. Die See hat die Karten also neu gemischt.
Die Schiffsglocke hängt bei Lloyd’s
Als Symbol dieser Geschichte hängt die Schiffsglocke der unglücklichen Fregatte heute bei Lloyd’s. Sie trat – auch dies eine Ironie der Geschichte – 59 Jahre nach dem Schiffsuntergang wieder zutage, als nach einem Sturm das Wrack zeitweise wieder aus dem Schlick aufragte. In jenem Jahr wurden übrigens auch 32 Gold- und 66 Silberbarren gehoben. Keine Angst: Es sind noch genügend an Ort und Stelle.
Die Glocke ist inzwischen berühmter als das Schiff. Über Jahrhunderte läutete sie, wenn bei Lloyd’s der Versicherungsfall eintrat. Sprich dann, wenn irgendwo auf dem Erdball ein von Lloyd’s versichertes Schiff gesunken war. Als die Gesellschaft 2011 in ein neues Gebäude umzog, zog auch die Glocke mit.
Aber niemand zieht mehr daran: Seit 1979 ein Riss in der alten Glocke entdeckt wurde, hat die Tradition aufgehört. Nun läutet sie nur noch zu besonderen Anlässen, etwa bei Sterbetagen innerhalb der Königsfamilie oder besonderen katastrophalen Großereignissen wie 9/11 oder den islamistischen Terroranschlägen in London 2005.
Heute etwa 133 Millionen Euro wert
Grob geschätzt, würde der Nordsee-Schatz von Terschelling heute 133 Millionen Euro wert sein. Doch wem gehört er? Lloyd’s hat damals den Verlust versichert. „Wenn in all dieser Dunkelheit des Unglücks ein Licht scheint, dann durch die Tatsache, das Lloyd’s den Schaden komplett regulierte“, heißt es pathetisch auf der Website des Versicherungs-Konglomerats, „noch dazu in nur zwei Wochen.“ Mehr noch: Der Fall „Lutine“, so erklärt der wohl berühmteste Schiffsversicherer, habe die Reputation von Lloyd’s erst geschaffen.
Die Frage nach den Bergerechten findet auch in einer eigenen Satzung Niederschlag. Im Lloyd’s Act von 1871 ist noch viel von der Aufregung zu spüren, die diese Katastrophe und der schockierende Verlust einer damals unerhört hohen Summe verursachten. Auf Seite 35 heißt es: „Das Eigentum an dem verbleibenden, nicht geborgenen Gold wird zur Hälfte zwischen den per Dekret bestimmten Bergeunternehmern und der Society of Lloyd’s aufgeteilt.“
Das Dekret nimmt auf den Umstand Bezug, dass im 19. Jahrhundert der König der Niederlande Unternehmer ermächtigte, die Bergung – die ja in holländischen Hoheitsgewässern erfolgt – auszuführen. Erst lange nach dem Schiffsuntergang trat das Königshaus die Bergerechte an die britische Krone ab.
Damit ist die Frage der Rechte eindeutig – ein seltener Fall, gibt es doch um versunkene Schätze regelmäßig heftige juristische Kämpfe. Denn neben dem Land, in dessen Küstenstreifen der Schatz liegt, hat auch die Nation, zu deren Flotte das Wrack einst gehörte, einen Anspruch. Oder glaubt zumindest, diesen zu haben. Doch um es zu verteilen, muss es erst einmal herauf, das Gold und Silber.