Es ist eine Szene wie aus dem Bilderbuch: Ein Segelboot neigt sich elegant in der Abendbrise. Aber irgendetwas stimmt nicht. Keine fliegende Gischt. Kein Bug, der rauschend durch die Wellen schneidet. Keine Bewegung. Nichts ist so, wie es scheint.
Ich stehe im knietiefen Wasser und betrachte das surrealistische Stilleben, dessen Protagonist mein Boot ist. Die SV Seefalke, meine knallorangene 40-Fuß-Ketsch aus bestem Marinestahl, ist gestrandet wie ein Wal. Es ist ihr zweiter Tag auf der Sandbank, und sie sieht traurig aus. Aber auch ein bisschen trotzig, als ob sie ruft: „Ok, diesmal haben wir verloren, aber die letzte Schlacht gewinnen wir!“ Verloren haben wir gegen den Sturm Gamma, der Seefalke und mich im äußersten Osten Mexikos, in der Bahia von Isla Mujeres vor der Halbinsel Yukatan, erwischt hat.

Gamma wurde vor drei Tagen als harmloses Tiefdruckgebiet geboren. Mit maximalen Windgeschwindigkeiten von sechzig Knoten beinahe schon ein Hurrikan, hält er nun auf Yukatan zu. Mittlerweile können mich Tropenstürme nicht mehr aus der Ruhe bringen. Aber der Haltegrund in der Bahia ist berühmt-berüchtigt. Sobald mehr als zwanzig Knoten Wind darüber wehen, wird das Ankerfeld regelmäßig auf- und durchgemischt.
Ich fiere die Ankerkette auf 50 Meter. 50 Meter bei nur 2,30 Meter Wassertiefe. Viel mehr geht nicht, sonst werde ich bei den vorhergesagten nordöstlichen Winden meinem Nachbarlieger zu nahe kommen. Ich gebe 1.000 Umdrehungen zurück, dann 2.000. Mein 62-PS-Diesel bemüht sich redlich, Wasser quirlt und sprudelt, aber wir bewegen uns keinen Millimeter. So soll es sein.
Hier hatte die „Ankerregatta“ stattgefunden
Dann setze ich meinen zweiten Anker V-förmig, in einem Winkel von ca. 60° zum ersten. 20 Meter starke, zwölf Millimeter dicke Kette und zusätzlich 20 Meter Bleileine müssen reichen. Wenn uns etwas das Genick bricht, dann nicht der kontinuierliche Wind, sondern die Böen. Ich hole mir die Taucherbrille und tauche beide Anker ab. Sind tief eingegraben. Sieht gut aus!
Doch mich befallen Zweifel: Genau dort, wo ich heute ankere, hatte vor ein paar Monaten während des Tropensturms Cristobal die Ankerregatta stattgefunden. Nach dem Motto: Wer kann mit schwerstem Anker und längster Kette vor Topp und Takel noch am schnellsten fahren? Meine Freunde von SV Off-The-Grid waren vorne mit dabei, aber auch SV Maverick und SV Sukha hatten Ambitionen aufs Treppchen. Alles erfahrene Skipper mit guten Ankern und viel Kette.
Zwei Kabel weiter östlich ist der Haltegrund wesentlich besser. Aber ich bin einfach zu faul. Zu faul, den zweiten Anker manuell aufzuholen und dann noch den ersten. Dann auf den neuen Platz verholen und beide Anker wieder setzen, einfahren, abtauchen. Das würde zwei Stunden Knochenarbeit bedeuten, mindestens. Ich klariere das Deck und binde alles fest, was nicht niet- und nagelfest ist, sichere mein Dinghy mit einer zweiten Leine und mache die Schotten dicht. Gamma kann kommen!
Klar zum Rodeo
Bei Einbruch der Dunkelheit nimmt der Wind zu. Das Schiff bebt. Gefährlich heult es in den Stagen und Wanten: der bekannte Soundtrack des Sturms. Kurz vor Mitternacht sind es beständig mehr als 30 Knoten mit Böen tief in den Vierzigern. Die Böen kommen über uns wie überdimensionale Ohrfeigen. Sie kommen nicht von vorne. Unter ohrenbetäubendem Lärm schlagen sie von der Seite zu wie Thors Hammer!
Sie legen Seefalke auf die Seite, bis sie in die Kette einruckt und unsanft wieder aufgerichtet wird. Bereit für den nächsten Schlag. Auf dem iPad in meiner Navi-Ecke sehe ich die Plotterdaten, empfangen über WLAN, praktisch. Nie habe ich dieses Gadget mehr geliebt als jetzt. So muss ich wenigstens nicht in den Regen raus. Der Ankeralarm ist gesetzt, aber er bleibt stumm, Seefalke schwoit perfekt nach Lehrbuch.

Kaum aufgewacht nach einem kurzen Schlaf sehe ich, dass meine Freunde von SV Bullseye bedrohlich zielstrebig auf mich zukommen. Sie stehen auf dem Vordeck und kämpfen verzweifelt mit etwas, vermutlich mit der Ankerkette. Im letzten Moment bekommen sie ihren kleinen Motor gestartet und quälen sich zurück zu ihrem Ankerplatz.
Das Heulen des Sturms übertönt alles
Die Böen haben mittlerweile gut über 50 Knoten drauf. Plötzlich sehe ich Bewegung auf dem Plotter. Nur 20 Fuß, aber definitiv 20 Fuß zu viel! Aber wir haben wieder gestoppt. Es sieht so aus, als hätte der Anker einen neuen Haltepunkt gefunden. Aber es gefällt mir nicht. Ich bin alarmiert und starte den Motor. Nur für den Fall. Erst denke ich, der Motor startet nicht, weil ich ihn nicht hören kann. Doch ein Blick auf den Drehzahlmesser sagt mir, dass er läuft wie er soll. Das Heulen des Sturms übertönt einfach alles.
Es gehen noch ein paar böse Böen durch, ohne dass wir uns weiter vom Fleck bewegen, und ich entspanne mich langsam wieder. Zu früh. Denn schon im nächsten Moment geht ein tiefes Stöhnen und Zittern durch das Schiff. Seefalke richtet sich in einem Winkel von ca. 60° zum Wind aus: das gefürchtete und sichere Zeichen, dass der Anker endgültig nicht mehr hält.