
Worst-Case-Szenario
Ich kupple den Motor ein, jetzt muss ich doch umankern unter wesentlich widrigeren Bedingungen als noch am Nachmittag. Faulheit muss bestraft werden. Nach nur ein paar Sekunden geht der Motor wieder aus. Ich höre es nicht, aber mein Panel leuchtet wie ein Christbaum und der Drehzahlmesser zeigt fast schadenfreudig null Umdrehungen.
Im Bruchteil einer Sekunde weiß ich Bescheid. Weiß, dass ich mir etwas in den Propeller gefahren habe, wahrscheinlich die Leinen, an denen das Dinghy am Heck gesichert war. Die waren zu lang und eine davon auch keine Schwimmleine. Das war‘s. Das Worst-Case-Szenario. Jetzt kann ich nichts mehr tun als mich auf die Landung vorzubereiten.
Von jetzt auf gleich degradiert vom Kapitän zum Zuschauer.
Aber es gibt auch noch gute Nachrichten. Weiter in Lee sind keine weiteren Boote, und die Sandbank ist weich. Sie schließt uns schon beinahe liebevoll in ihre Arme. So liebevoll, wie es bei der kurzen Welle und bei 45 Knoten Wind eben geht.
Unter 13 Tonnen Stahl
Sobald wir einigermaßen sicher geparkt sind, schnappe ich mir meine Taucherbrille, mein Seglermesser und meine Handschuhe und springe ins Wasser. Wenn ich die Leinen schnell genug aus dem Propeller rauskriege, habe ich vielleicht noch eine Chance, aus eigener Kraft wieder in tieferes Wasser zu kommen.
Zuerst bin ich etwas erstaunt, dass das Wasser nur schultertief ist, aber klar, Seefalkes Tiefgang ist 1,5 Meter und wir sind gerade auf Grund gelaufen. Nach etwas Überwindung gleite ich unter das Schiff. Nach nur wenigen Sekunden komme ich wieder hoch. Habe mir böse meinen Kopf gestoßen – Holz gegen Stahl – und kann die Hand vor Augen nicht sehen. Nicht nur weil es noch ziemlich dunkel ist, sondern auch wegen des aufgewühlten Sandes.
Ich nehme die Taucherbrille ab, muss jetzt nach Gefühl tauchen, die Handschuhe ziehe ich auch aus. Es sind gute taktile Handschuhe mit eingewebtem Kevlar. Sehr effektiv gegen die scharfen Kanten der Muscheln. Aber nutzen tun sie mir jetzt nichts. Was das für meine Finger bedeutet, weiß ich schon jetzt.
Ich rutsche wieder unter das Boot und hoffe stark, dass es mich jetzt nicht einklemmt oder zerquetscht. Kein gutes Gefühl mit 13 bockenden Tonnen Stahl, die über meinem Kopf Rodeo vollführen, und ohne einen Ausweg. Aber es ist meine einzige Chance. Ich taste nach den Leinen. Ich fühle, dass sie nicht mit der Welle verschmolzen sind und auch nicht verklemmt zu sein scheinen. Mit ein bisschen Glück müsste ich sie einfach abwickeln können.

Der Kampf mit dem Messer
In der Zwischenzeit arbeitet sich das Boot langsam weiter auf die Sandbank. Es krängt bedrohlich. Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich die erste Leine los und mache eine Pause. Blut läuft an meinen Finger, meinen Händen und meinen Armen entlang, aber Schmerz spüre ich nicht. Jedoch weiß ich, dass ich das nachholen werde in den nächsten Tagen. Diese Muscheln schneiden tief ins Fleisch und das Salzwasser verdoppelt das Vergnügen.
Mein Kopf muss grün und blau sein und geschwollen, aber das ist mir jetzt egal. Ich muss diese blöden Leinen da rausbekommen. Noch ein paar Mal tauchen und ich hab‘s geschafft. Zum Schluss muss ich doch noch schneiden. Es ist schwierig, nur nach meinem Tastsinn die Stelle wiederzufinden, an der ich die Leine schon angeschnitten habe. Die Leine ist zu gut oder mein Messer zu schlecht, um sie in einem Rutsch durchzuschneiden. Nach ewigen 45 Minuten kann ich mir selbst melden: „Propeller ist klar.“ Aber es ist zu spät. Der Sturm hat uns schon zu weit auf die Sandbank gedrückt. Aus eigener Kraft hier runterzukommen – unmöglich.

Zurück im Boot kann ich von meiner erhöhten Position das Riff sehen, sehr nah und außerdem in Lee. Wenn wir uns weiter darauf zu bewegen, werden wir in ein paar Stunden über die Sandbank gerutscht sein und auf den Felsen landen.