“Die ersten 17 Kilometer bis zum Kontrollpunkt 1 sind langweilig, aber einfach zu fahren. Immer geradeaus auf dem Südumfluter – wie auf der Autobahn mit der Strömung.” Es ist immer gut, Ortskundige zu befragen. Joachim fährt bereits zum elften Mal die 42 Kilometer Runde durch den Spreewald, kennt sich also aus. Doch bevor ich angesichts des Respekts vor einer solchen Strecke aufatme, kommt gleich noch ein Satz hinterher: “Danach wird es Rock’n Roll, sehr kurvig und hart werden die letzten zehn, zwölf Kilometer, immer gegen die Strömung. Da muss man ordentlich Stoff geben, aber dennoch kommt es einem vor, als wenn nichts passiert und man nicht nach vorn kommt.”
Das Gespräch am Vorabend zum 15. Spreewaldmarathon ist eigentlich die einzige Vorbereitung auf diese Tour, die meine Lebenspartnerin Anja und ich gemacht haben. Wir sind keine Paddler. Wir lieben es nur, auf dem Wasser zu sein. Hauptmotivation sind Abenteuerlust und der ausgelobte Preis. Wikipedia schreibt darüber: “In Anlehnung an die wohl bekannteste Delikatesse der Region, die Spreewälder Gurken, lautet das Motto der Veranstaltung: Auf die Gurke, fertig, los. Passend dazu erhält jeder Finisher an Stelle einer Medaille eine schwergewichtige grüne Gurke aus Metall.” Es gibt drei Strecken: 10, 21 und 42 Kilometer. Nur die 42 Kilometer-Paddler bekommen die grüne Gurke mit goldenem Laub. Wenn das kein Anreiz ist! Natürlich beabsichtigen wir, auf Gold zu gehen.
Zur Unerfahrenheit erschwerend hinzu kommt, dass wir kein Kajak, dafür aber einen Hund haben. Wir müssen uns also vor Ort eines der ausgelutschten Leihboote holen und die ganze Strecke einen 5,5 Kilo Parson Russell Terrier auf dem Schoß transportieren. Einem Schoß, der erwartungsgemäß irgendwann weh tun wird. Zum Glück aber paddeln wir an der Seite von Jo, der erfahren ist und in einem Carbon-Kanadier von Gatz mit seinem zwölfjährigen Sohn neben uns bleiben wird. Jo ist ein ortskundiger Profi.
Inuits aus dem Wedding
Ganz wie es sich gehört, gehen wir natürlich nicht in eine warme Pension, sondern fahren von Berlin aus mit Sack, Pack und Zelt mit dem RE2 und einer 30 minütigen Busfahrt über brandenburgische Dörfer nach Burg im Spreewald, dort auf den Kneipp-Erlebnis-Campingplatz. Wir finden auf der Zeltwiese einen Platz direkt am Wssser neben einem kleinen Sandstrand. Kaum jemand zeltet hier, bis ein paar Kanuten auf der Durchreise Station machen. Der Spreewald ist zu dieser Jahreszeit auf dem Wasser noch sehr leer. Das scheint am Wetter zu liegen, denn leider macht der April das, was er kann: Nämlich, was er will und nicht wir wollen. Wir wollen Sonne und 20 Grad, er Regenschauer und nachts 3 Grad. Die erste Nacht im Zelt ist lausig kalt. Dagegen hilft auch nicht einmal die zeltigste aller Speisen, Pestonudeln. Irgendwie fühlen wir uns wie die Ureinwohner Grönlands, die das Kajak erfunden haben. Nachts schüttet es wie aus Kübeln und starke Windböen, die das textile Iglu flattern lassen, gesellen sich dazu. Ziemlich durchgefroren, zum Glück aber trocken, stehen wir morgens auf, trinken einen Kaffee und frieren uns auf den Tag ein. 9 Uhr Treffpunkt mit Jo und seinem Sohn an einer Schleuse. Davor noch Kajak ausleihen („Harry“, Prion Cruiser, keine Steueranlage), zum Startpunkt fahren, Stempel holen und dann vier Kilometer Autobahn, also das Stück, dass wegen der Strömung “einfach” ist.
Die ersten 500 Meter zum Startstempel müssen wir zunächst in die falsche Richtung, da unser Campingplatz auf der Strecke hinter dem Start liegt. Auf diesem Teilstück, das mitten in Burg liegt und windgeschützt ist, lernen wir gleich zwei Dinge:
1. Gegen die Strömung ist es anstrengend.
2. Mit der Strömung leicht und schnell.
Nach dem Start geht es also die ersten 800 Meter ganz einfach und sehr flott voran. Danach folgt eine Biegung und dann ist man auf der geraden, breiten Strecke. Die Strömung schiebt zwar, doch auf dem freien Gelände erwischt uns der Wind (Böen bis 100 Km/h) genau von vorne. Das egalisiert nicht nur die 1 Km/h Strömung, es fordert auch die Arme. Nach 40 Minuten kommen wir am 3,9 Kilometer entfernten Treffpunkt, der zweiten Schleuse an. Jo schickt eine SMS: “Kommen später los, sind in 30 Minuten da”. Also warten wir. Und was macht man, wenn man wartet? Man redet und denkt. Wir denken zunächst leise und reden dann. Nach ein paar Sätzen steht unser Plan B fest: Wir paddeln “nur” die 21 Kilometer. Gegen den Wind war das erste kurze Stück bereits eine anstrengende Katastrophe. Außerdem ist es schon spät, kalt und Regen soll auch noch kommen. Unter diesen Bedingungen siegt der Respekt vor der langen Strecke über Abenteuerlust. Außerdem sind alle Gurken grün und für den Halbmarathon gibt es immerhin noch silberne statt goldene Blätter.
Jo und Sohn Raffael finden die Idee nicht so verkehrt. So richtig Lust, die große Runde bei diesem Wind zu machen, haben sie wohl auch nicht, obwohl die beiden das schaffen würden. Auch wenn ein Kanadier mit dem hohen Freibord sehr windanfällig ist. Jo schlägt vor, die Strecke durch Verschönerung etwas zu verlängern. Erleichtert legen wir los.
Vollcarbon Best-Ager
Nach ein paar Metern überholen uns drei Kajaks ähnlich wie 7er BMW auf der Autobahn. Drahtige Best-Ager in Vollcarbon. An der Schleuse schleusen sie nicht, sondern tragen von Hand im Laufschritt um. Das Schleusen übernehmen Helfer, die sich hier ein paar Cent verdienen. Oder – das ist meistens so – man schleust halt selbst. Raffael schleust gern, so dass wir unser Prion “Cruiser” ohne Steueranlage nicht verlassen müssen. Ich habe beim Aussteigen sowieso Probleme, weil ich wie ein Astronaut eingepackt bin: Regenkleidung, darunter eine Fleece-Kombi, darunter T- und Sweat-Shirt. Diese Kombination retten einem den Allerwertesten vorm abfrieren, gelenkig maxcht sie mich jedoch nicht gerade.
Nach einer Weile biegen wir von der goldenen Route ab, immer den silbernen Pfeilen hinterher und fahren nun durch schöne kleine Fließe, die dazu noch windgeschützt sind und deren Strömung uns leicht anschiebt. Perfekt.
Nach rund zweieinhalb Stunden Fahrt kommen wir an der Polenz-Schänke an, der ältesten Gastwirtschaft im Spreewald. Diese dient heute auch als Kontrollpunkt 3. Das ist der einzige Stempel, den wir für die silberne Gurke brauchen. Wir legen also an, ziehen die Kajaks an Land, holen uns den Stempel und trinken unterm Dach ein Bier. Traditionell trinkt man auch einen Spreewaldbitter, der hier noch vorm Kümmerling Platz 1 auf der Liste der Energydrinks belegt. Das Timing hätte nicht besser sein können, denn während unserer Pause zieht ein Regengebiet durch, das es in sich hat. Wir bleiben trocken. Die Schänke ist voller Paddler. Darunter auch ein paar Vollcarbon-Best-Ager, die bei deftigem Essen und Weißbier die Zeit wieder vertrödeln, die sie vorher erpaddelt haben.
Bezahlt wird hier übrigens mit Gutscheinen, die man mit den Startunterlagen erhält. Jeder Teilnehmer des 42er Marathons bekommt sechs Ein-Euro-Gutscheine.
Als wir in der Sonne unser Picknick auspacken, plaudert Jo über den Spreewaldmarathon. Paddler sind bei dieser Veranstaltung nur ein Nebenprogramm, auch wenn das hier eines der berühmtesten Paddelreviere überhaupt ist. Weit über 10.000 Menschen nehmen auf unterschiedlichste Art an dem Marathonerlebnis teil. Sie laufen, radeln, fahren auf Inline-Skates, walken nordisch und paddeln in Kanus oder auf SUPs. Keine bierernste Veranstaltung sondern eine ziemlich lockere und äußerst sympathische Sache, die sich immer größerer Beliebtheit erfreut. Und jeder, der ankommt, erhält eine Gurke aus Spritzguss. Paddler sind in der Minderheit und so sieht man unterwegs auch kaum jemanden, außer vor Schleusen und in Gaststätten.
Hund über Bord
Nach dem Bier gibt es ein Picknick, weil Anja beim Hundenetto in Burg eher für einen 420 Kilometer Marathon einkauft hat. Es gibt Bouletten, Babybel, Sandwiches, Fleischwurst, Schnitzel und Rotkäppchen trocken. Wir fahren nach einer halbstündigen Pause weiter. Bisher ging es ausgesprochen gut und wir reden in unserem Zweierkajak darüber, dass wir die 42 Kilometer wohl auch geschafft hätten. Diese Überzeugung weicht allerdings nach weiteren anderthalb Stunden. Denn der Wind hat gedreht, kommt daher schon wieder von vorne und die Strömung nun auch. Die Paddelbewegungen werden kräftiger, die Arme länger und der Rücken schmerzt so langsam auch. Die Fließe, auf denen wir fahren, mäandern vor sich hin, eine enge Kurve folgt der anderen und ohne Steueranlage muss man mit den Paddeln steuern, was zusätzlich Fahrt aus dem Boot nimmt und Kraft kostet. Die rund sieben Kilometer zusätzlicher Umwege jedoch lohnen sich dennoch: Es ist so wunderschön hier. Nutrias sitzen am Ufer, Rehe schauen einen an, von Bibern angenagte Bäume säumen das Ufer – alles in einer (künstlich angelegten) Natur, die einem den Atem verschlägt. An manchen Stellen fühlt man sich wie im Amazonasgebiet. Ein weiteres Highlight der Rücktour: Eine Bootsrutsche, mit der man die Schleuse umfahren kann.
Danach geht es wieder geradeaus auf einem etwas breiteren, stärker befahrenen Kanal. Hier sind viele ungeübte (oder es lag am Spreewaldbitter) Paddler unterwegs, was man daran erkennt, dass sie manchmal ungewollt rückwärts fahren oder die Bootsnase in der Böschung oder an Brückenpfeilern reiben. Unser Rückweg läuft allerdings auch nicht ohne Fauxpas ab. Während einer Pinkelpause versucht Polly, an Land zu springen, hängt jedoch noch an der Leine und landet im Bach. Die Folge: Die restlichen 9 Kilometer habe ich einen kalten, nassen, zitternden Hund auf meinen Beinen liegen, die bereits ziemlich weh tun, weil ich sie wegen des Hundes den ganzen Tag nicht bewegen konnte.
Aber nicht nur deshalb finden wir, dass es Zeit wird, ins Ziel zu kommen, sondern eher wegen deprimierend gerader Strecken gegen Wind und Strömung, auf denen immer mehr Kajaklegastheniker herumfahren. Dazu gesellen sich die Spreewaldkähne. Es ist immer noch wunderschön hier, nur ziehen einen die langen Arme etwas runter und der menschliche Motor läuft immer unrunder. Nach einer schier endlos scheinenden vier Kilometer Strecke haben wir es dann fast geschafft. Noch eine Schleuse, zwei Ecken und wir liegen erschöpft aber glücklich am Steg.
Gold und Silber
Zu Fuß erreichen wir gegen 18:30 Uhr das Start/Zielhäuschen, um uns die begehrte Gurke zu holen. Die freundliche Dame schaut auf unsere Stempelkarte und reicht uns die Gurke mit den silbernen Blättern. Zusätzlich bekommt man noch eine Urkunde, die bereits am Tag gedruckt wird. Da wir uns allerdings für den 42 Kilometerkurs gemeldet hatten, lag die Urkunde auch nur mit dieser Streckenangabe vor. Meinem Hinweis, wir würden auch die nehmen, folgte ein Lächeln und die Übergabe der 42 Kilometerurkunde. Es wird hier alles nicht so ernst genommen, und das ist gut so.
Abends sind wir noch zum Grillen eingeladen, können aber weder sitzen noch Gläser zum Mund führen und sind dazu hundemüde. Es folgt eine noch eisigere Nacht im Zelt und ein regnerischer Morgen. Dann geht es mit dem Bus über brandenburgische Dörfer nach Cottbus und mit der Bahn zurück nach Berlin.
Fazit: Wunderbar. Rund 30 Kilometer gepaddelt, kalte Nächte überstanden und genossen – ein echtes Abenteuer. Wir kommen nächstes Jahr wieder, dann gehen wir auf den langen Kurs – Go for Gold! Auch wenn das Wetter noch schlechter sein sollte.
8 Kommentare
mensch dig…, äh, stephan, voll der burner was du da machst, freu mich schon auf auf die innovativen produktest für paddler und vielleicht wird ja irgendwann der kajakbau revolutioniert.
Herr Pachulke,
es freut mich, dass Sie mir das zutrauen, aber der Kajakbau muss nicht revolutioniert werden. Mit Kajaks ist alles in bester Ordnung.
Produkte habe ich in diesem Artikel ja bereits getestet und empfohlen. Unter anderem Spreewaldbitter.
Grüße!
Toller Bericht ?
Das Aprilwetter beim Spreewald-Marathon ist eine Herausforderung – im letzten Jahr hatten wir „nur“ Regen.
Nächstes Jahr sitze ich dann wieder gerne mit Jo in einem Boot…
Wir sind in jedem Fall wieder dabei
Respekt vor der Leistung! Durch dich bin ich erst so richtig auf die Veranstaltung aufmerksam geworden. Nächstes Jahr werde ich auch dabei sein. Wahrscheinlich aber erstmal nur auf Silberkurs 😀
Hallo Henry,
die 21 Kilometer reichen auch erst mal aus. Dabeisein lohnt sich in jedem Fall und ne silberne Gurke hat auch was.
Hallo Stefan, ein wundervoller Bericht. Es war uns eine Freude und Ehre bei Eurer Jungfern-Tour als Geleitzug dabei zu sein. Bei 20 Grad und Sonnenschein kann jedes Weichei Paddeln. Ich freue mich dann auf das nächste Jahr.
Go for Gold Polly
Carbon-Jo
Danke Dir, Jo. Ohne Dich hätten wir weniger Kilometer und sicher mehr Spreewaldbitter gemacht. So war das perfekt!