Segeln ist eine Randsportart, die nur wenige interessiert? Von wegen: In Frankreich avancierte die Einhand-Nonstop-Weltumseglung Vendée Globe zum zweitgrößten Sportereignis des Jahres. Nach der Fußball-EM, vor der Tour de France!
Les Sables d’Olonnes, ein kleines Badestädtchen an der französischen Atlantikküste im Departement Vendée. An diesem 6. November ist um sieben Uhr morgens die Welt alles andere als in Ordnung. Sie ist sogar ziemlich aus den Fugen geraten. Entlang des Tidenkanals, der vom offenen Meer tief in den Ort hinein bis zum Fischerei- und Regattahafen führt, stehen im Dämmerlicht des heraufziehenden Tages zehntausende Menschen. Sie stampfen in der nassen Kälte mit den Füßen auf, ziehen sich den Kragen ihrer schweren Öljacken bis über die Nase, trinken aus Thermoskannen Tee und Kaffee und schmieren sich knusprige Baguettes mit salziger Butter. In dem ansonsten eher beschaulichen Städtchen „Les Sables d’Olonnes“ (sprich: dolonjié) herrscht seit drei Wochen Ausnahmezustand, der heute seinen Höhepunkt finden soll.

Als die ersten Sonnenstrahlen das Szenario beleuchten, kommt „Leben in die Wartenden“. Die mittlerweile 350.000 Menschen beginnen, sich in La-Ola-Wellen zu üben, singen Sprechchöre, rufen sich schon mal mit den Namen ihrer Helden die Stimme warm. Überall wird gelacht, im Sonnenschein wird es wärmer, die Stimmung ist perfekt. Als um 8:50 Uhr MEZ schließlich ein erstes, knapp 20 Meter langes Segelboot der IMOCA-Klasse im Regattahafen ablegt und unter Motor in den Kanal einbiegt, bricht ein Orkan aus Rufen, Brüllen, Schreien, Singen, Lachen und manchmal auch Weinen aus den wartenden Fans heraus.
Das erste Schiff einer 29 Boote starken Flotte fährt in den mittlerweile weltberühmten Kanal von „Les Sables“ ein und tuckert Richtung offenes Meer. Im Vier-Minuten-Takt folgen die anderen IMOCA-Boote und jedes, wirklich jedes dieser Schiffe wird mit ohrenbetäubendem Lärm geehrt und gefeiert.
Doch die Mittelpunkte dieser Feierorgie sind natürlich nicht die Boote, sondern die so klein und manchmal auf den riesigen Karbonrennern ein wenig verloren wirkenden Männer, die in ein paar Stunden draußen vor der Küste zu einer Regatta um die Welt starten werden. Alleine, also einhand, ohne Zwischenstopp, versteht sich. 21.500 Seemeilen, rund 40.000 Kilometer liegen (theoretisch) vor ihnen, unberechenbare Wetterkapriolen, monatelanger Schlafentzug, härteste Arbeit, 1001 kaum einschätzbare Gefahren und die totale Einsamkeit – genau der Stoff, aus dem Helden gemacht sind. Und gemacht werden.
Wie Helden werden sie dann auch gefeiert. Oder besser gesagt: So muss das früher gewesen sein, als die Gladiatoren in die Arenen einliefen. Auch ihr Schicksal war ungewiss und genau dafür wurden sie von ihren Anhängern geliebt.


Die Protagonisten auf ihren Booten genießen jeden Augenblick auf ihre ganz persönliche Weise. Die einen stehen schüchtern winkend neben dem Mast und bedanken sich artig bei den jubelnden Fans mit Verbeugungen. Andere nehmen am Spektakel teil, tanzen wild auf dem Deck herum, hüpfen, springen, klatschen im Takt der Masse und saugen jeden Augenblick unter Menschen auf für die mindestens drei Monate lange, einsame Reise, die vor ihnen liegt.
Anderen steigen gleich die Tränen der Rührung in die Augen, die sie sich mehr oder weniger theatralisch vor den Dutzenden laufenden TV-Kameras aus den Augenwinkeln wischen. Als das letzte Boot durch den Kanal schippert, wird es von Zehntausenden Fans gehend begleitet, die sich alle vorne am Pier, am Hafenleuchtturm, auf den Molen und Stränden drängeln, um in der Ferne die Startvorbereitungen zu verfolgen. Viele haben Notebooks dabei, auf denen sie live über Internet noch näher dran sein können am Geschehen – viele ziehen gleich in die nächsten Bistros, wo sie auf großen TV-Bildschirmen beim Bier oder „Rouge“ in den Sportsonntagsmodus übergehen.

Andere haben sich einen Platz auf den über 7.000 Motorbooten ergattert, die zum Start aufs Meer fahren und die Segler noch ein paar Seemeilen begleiten wollen. Aber Achtung: Seefest sollte man schon sein!
Als um 13:02 h draußen auf dem Meer der Startschuss fällt, geht nochmals ein Aufschrei durch die weiterhin wartende Menge. Ein letztes Farewell für die Helden des Segelsport, für die Gladiatoren der Meere, die nun mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihren Karbon-Boliden Richtung Horizont rasen…
Ils sont fous!
Die oftmals so lapidar hingeworfene Aussage, die Franzosen seien eine „segelverrückte Nation“, lässt sich mit keinem Event besser untermauern, als mit der Vendée Globe. Die dieses Jahr zum achten Mal gestartete Einhand-Regatta um die Welt (Austragungsmodus: alle vier Jahre) hat es längst zu einem der größten Sportevents Europas gebracht – und zum zweitgrößten Frankreichs im Jahre 2016. Nur zur Fußball-Europameisterschaft 2016 pilgerten mehr Menschen; selbst die Tour de France kam nicht auf annähernd so viele Zuschauer wie die Vendée Globe.

Sage und schreibe 1,5 Millionen Menschen reisten während der drei Wochen vor dem Start nach Les Sables d’Olonne, um einen Blick auf die hintereinander am Überseesteg aufgereihten Rennyachten der IMOCA-Klasse zu werfen. Und natürlich um vielleicht ein Autogramm von einem der Skipper zu erhalten, einer der vielen öffentlichen Veranstaltungen im Race-Village beizuwohnen oder um – höchstes aller Glücksgefühle – im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein um von einem der Skipper an Bord gebeten zu werden. Einfach so, weil die Stimmung gerade blendend ist…
Um die Segel-Fans an den Atlantik zu bringen, setzte die französische Bahn SNCF auch in diesem Jahr wieder Sonderzüge ein, wurden vermehrt Flüge zum nächstgelegenen Flughafen Nantes angeboten und über soziale Netzwerke vorbildlich viele Mitfahrgelegenheiten organisiert. 200 Schulklassen aus ganz Frankreich machten ihren Jahresausflug zum Überseesteg von Les Sables d’Olonnes und ein Peleton mit über 50 Rennradfahrern „gehobenen Alters“ radelte von den Alpen quer durchs Land an den Atlantik.

Entsprechend groß ist das Medieninteresse: Mehr als 1.100 Journalisten aus 22 Ländern akkreditierten sich auf der Presse-Website des Events zwecks Berichterstattung, 850 Schreiber, Fotografen und TV-Reporter erschienen in persona im dreistöckigen Pressezentrum des Race-Village.
Letztendlich berichteten achtzig TV-Sender live vom Start zur Vendée Globe und von den aufregenden Tagen zuvor. Für Segelverhältnisse schier unglaubliche Zahlen, die in punkto Gesamtübertragung nur vom America’s Cup übertroffen werden. Obwohl, die in der Bucht von San Francisco akkreditierten Journalisten konnte man an ein paar Händen abzählen. Und apropos America’s Cup – mehrere der AC-Macher wurden staunend auf dem Steg zwischen Tausenden Besuchern gesichtet.
Ein weiterer Vergleich: Bei der Kieler Woche 2016 kamen zur zuschauerträchtigsten, segelaffinen Veranstaltung, der Windjammerparade, 80.000 Menschen. Sicherlich auch beeindruckend, aber…
Das Leuchten in den Augen
Doch kann man die Faszination, die von der Vendée Globe ausgeht, wirklich nur in schnöden Zahlen darstellen? Irgendwoher muss das Interesse für eine Regatta, deren Teilnehmer sich monatelang maximal weit in die Ferne und totale Einsamkeit begeben, ja herkommen.
Tatsächlich werden in Frankreich die Hochseesegler ähnlich verehrt, wie etwa die französischen Tour de France-Sieger. Die sich jedoch in den letzten Jahrzehnten leider etwas rar machten.

Hochseesegeln und Hochseeregattasport zählen bei den Franzosen zum Härtesten, was man auf unserem blauen Planeten ausüben kann. Und so ganz nebenbei bemerkt: In kaum einer anderen Sportart sind französische Sportler derart dominant präsent. Entsprechend hoch werden die Leistungen der See-Helden bewertet, entsprechend riesig die Porträtfotografien, mit denen sie in den Regattahäfen, in zahllosen Fotogalerien aber auch etwa in Rathäusern ge- und verehrt werden.
„Es ist dieser Moment, wenn sie nach Monaten Einsamkeit auf See wieder hinterm Horizont auftauchen.“
So hat es die Vendée Globe Direktorin Laura Le Goff kürzlich einmal treffend beschrieben.
„Wenn sie näher kommen erkennst du, dass sie physisch völlig am Ende sind. Aber dann siehst du dieses Leuchten in ihren Augen!“
Eine Beobachtung, für die man seit der letzten Vendée Globe-Ausgabe vor vier Jahren nicht mehr bis zur Rückkehr der Seefahrer warten muss. Seit 2012 segelt jeder der Teilnehmer voll vernetzt und mediatisiert über die Sieben Meere. Alle Segler schicken täglich ihre Eindrücke in Form von Fotos, Filmen und Textnachrichten auf die Vendée Globe-Website. Noch nie zuvor konnte man so hautnah auf Hochsee dabei sein, ein Spektakel ohnegleichen: man klettert mit den Seglern in den Mast, man kriecht mit ihnen ins Innere der Karbonhöhle, sitzt mit ihnen vor dem Navigationsgerät, ruft den springenden Delfinen zu oder kocht „gemeinsam“ eine dieser angeblich so schmackhaften, gefriergetrockneten Astronautenmahlzeiten. Die man zwar nicht riechen kann, aber das wird auch noch kommen…

Weit draußen sind die Helden und doch so nah. Wetten, dass so der Hochsee-Segelsport im Nu neue Fans gewinnen wird? Und das nicht nur in Frankreich.
Wenn Sie den Franzosen die Hochsee nicht ganz überlassen wollen: Die Website der Vendée Globe ist schlicht vorbildlich informativ und unterhaltsam.
Wenn Sie wissen wollen, wie unglaublich vielfältig der Hochseesegelsport ist, sollten Sie bei der Virtual Regatta an den Start gehen – über 400.000 andere Segler sind schon dabei!

Ein Kommentar
Ich war schon zwei Mal beim Start der Route du Rhum, die Atmosphere ist da schon gigantisch!