Estland zählt mit 1,34 Millionen Einwohnern zu den kleinsten Ländern der Welt. An der Ostsee, gegenüber von Finnland liegend und östlich an Russland angrenzend, hat es eine Bevölkerungsdichte von 29 Einwohnern pro Quadratkilometer. Tatsächlich aber leben 400.000 Esten in der Hauptstadt Tallinn, noch einmal rund 200.000 Einwohner verteilen sich auf die Universitätsstadt Tartu, die nordöstlich gelegene Industriestadt Narva und die so genannte „Sommerhauptstadt“ Pärnu an der Südwestküste.
Um auf eigenem Kiel von Deutschland nach Estland zu reisen, muss man Zeit haben. Je nach Route sind es 500 Seemeilen von Rostock aus, entsprechend mehr von Lübeck oder Hamburg. Die Küstenreviere werden erst seit kurzem kartografiert, wie wir von der estnischen Verwaltung für maritime Angelegenheiten erfahren. Kein Skipper sollte, zu seiner eigenen Sicherheit, in ein estnisches Revier ohne aktuelle Seekarte einlaufen, denn eines gibt es an dieser Küste im Überfluss: Felsen und Steine.
Von den 150 existierenden Häfen, darunter viele kleine Fischer- und Naturhäfen, sind derzeit nur 25 als Sportboothäfen mit entsprechender Infrastruktur ausgestattet. Um sie zu erreichen, müssen teilweise Tagesetappen von 30 bis 60 Seemeilen bewältigt werden. Inzwischen hat die estnische Regierung ein Förderprogramm beschlossen, nach dem zumindest in jedem Fährhafen auch eine Marina für Yachten einzurichten ist.

Die ersten Anlagen können sich sehen lassen, auch wenn ihre Stege sogar während der Hauptsaison vereinsamt wirken. In Kuivastu auf der Insel Muhu, direkt neben dem Fähranleger, zeigt uns Hafenmeister Peeter Laum die tolle Ausstattung der Marina, die im Juni dieses Jahres eröffnet wurde. Die modernen Sanitärhäuser verfügen sogar über eine Sauna. Und bei einer Wassertiefe von 3,50 m im Hafenbecken dürfen sich auch tief gehende Yachten hineintrauen. Die meisten Segler kommen von Riga oder Helsinki nach Muhu herüber.
Ein Gegensatz zur modernen Marina in Kuivastu ist der Hafen in Koguva, wo die Einwohner des kleinen Ortes Fördergelder genutzt haben, um Touristen anzulocken. Direkt an dem kleinen Hafenbecken gibt es nun ein Fischereimuseum, und die Frauen aus dem Dorf sorgen mit landestypischer Küche dafür, dass kein Gast hungern muss. Dass dabei überwiegend selbst gefangener Fisch auf der Speisekarte steht, ist klar. Auch ein kleiner Laden mit regionalen Spezialitäten fehlt nicht. Wer Fischeridylle und naturnahe Ruhe liebt, der ist in Koguva richtig und kann zudem das Neubauprojekt eines historischen Holzschiffs besichtigen.

Noch einmal anders geht es in der großen Marina von Pärnu zu: Hier pulsiert das Leben. Die an der Westküste des Festlands gelegene Sommerhauptstadt bietet nicht nur ein großes Angebot an Restaurants, Bars und Diskotheken. Auch der lange, goldene Sandstrand ist verlockend. Der Pärnu-Yacht-Club mit modernen Steganlagen und einem tollen Clubhaus ist Anziehungspunkt für viele Yachties, dem entsprechend voll ist es dort während der Saison.

In Pärnu gibt es, wie in einigen wenigen anderen größeren Marinas, auch einen Vercharterer. Zurzeit bekommt man aber in Estland Charterboote nur mit Skipper. Das bei westeuropäischen Wassersportlern beliebte Bare-Boat-Charter sucht man hier noch vergeblich, so dass viele Charterkunden ins nahe gelegene Finnland ausweichen.
Tallinn, die Hauptstadt Estlands, in der ein Drittel der Gesamtbevölkerung lebt, gehört bei einem Besuch an der Ostsee natürlich unbedingt dazu. Ein Anziehungspunkt neben der sehr schön restaurierten und lebhaften Altstadt mit Festungsmauern und vielen Sehenswürdigkeiten ist seit wenigen Monaten das Meeresmuseum Seaplane Harbour. In der imposanten Halle wurden zu sowjetischen Zeiten Wasserflugzeuge gebaut. Jetzt kann man dort alle Aspekte des Meeres interaktiv erleben und bestaunen, eine Menge Technik und das legendäre U-Boot „Lembit“ inklusive.

Der alte Hafen von Tallinn bietet eine Steganlage für Freizeitschiffe. Doch sehenswert ist auch der wenige Kilometer weiter östlich liegende Olympiahafen, in dem 1980 die olympischen Segelwettbewerbe ausgerichtet wurden. Hier ist der Tallinn-Yachtclub ansässig. Seit den vom Westen boykottierten Olympischen Spielen hat sich dort nicht viel verändert. Die großen Hafengebäude im typischen Betonstil der 1980er-Jahre sind ein wenig heruntergekommen.

„Dort muss dringend saniert werden“, sagt Avo Tihamäe, der längjährige Geschäftsführer des traditionsreichen Kalev Yacht Clubs. Er führt uns in das historische Vereinsgebäude, das der 1947 gegründete Club hinter dem ehemaligen Olympischen Dorf bewirtschaftet. Auch hier ist die Zeit stehen geblieben, was dem maritimen Ambiente allerdings keinen Abbruch tut. Der Club platzt aus allen Nähten, denn man betreibt aktiv Jugendarbeit und richtet zahlreiche Regatten aus. Derzeit steht man in Verhandlungen mit den Betreibern des Olympiahafens, um dort weitere Steganlagen anzumieten.
Estland hat wassertouristisch viel zu bieten. Lange Küstenlinien, zahlreiche Buchten und Meerengen, aber auch rund 1.500 größere und kleinere Inseln sowie 60 Leuchttürme, davon auch einige historisch interessante Exemplare. Die Nordküste beeindruckt durch Kalksteinklippen, Wasserfälle und weiße Sandstrände. Noch findet man an vielen Stellen unberührte Natur und landestypische Verhältnisse.
Wer größere Etappen zwischen den modernen Yachthäfen scheut, ist in den kleinen Fischerhäfen herzlich willkommen, muss sich allerdings mit wenig Komfort zufrieden geben. Informieren sollte man sich vorher auch über die dort vorhandene Wassertiefe. Es lohnt sich, einmal in die elektronischen Hafenkarten der Schifffahrtsverwaltung hineinzuschauen, auch wenn die Internetseite unter sadamaregister.ee derzeit nur in Englisch und Estnisch verfügbar ist.
Zu den Küstenrevieren hinzu kommen 350 Kilometer befahrbare inländische Wasserwege. Fast alle Esten sprechen Englisch, viele ältere auch Deutsch. Das Klima ist mit dem unserer Regionen vergleichbar. Die Hauptsaison reicht von Juni bis August, wobei die hellen nordischen Nächte des Mitsommers einen ganz besonderen Reiz darstellen. Bleibt zu hoffen, dass der Ausbau einer Charterflotte zügig voran geht, denn Tallinn kann man günstig per Flugzeug erreichen.
Informationsquellen für Wassersportler
Notfall-Telefon, Navigationshilfe und Seefahrer-Nachrichten: www.vta.ee
Wetterinformationen: www.emhi.ee