Dass der Klimawandel einen Anstieg des Meeresspiegels verursacht, steht außer Frage. Wann und wie hoch das Wasser steigen wird, bleibt offen. Doch es scheint ratsam, sich darauf vorzubereiten. Die Ostsee-Sturmflut hat es gerade dramatisch vorgeführt. An der Nordsee ist man schon länger alarmiert. In Holland gibt es Pläne für einen Riesendeich. In seiner Endausbaustufe würde er auch die deutsche Nord- und Ostseeküste vor Sturmflut schützen.
Die Niederlande sind seit Jahrtausenden vom Meer bedroht. Ein Viertel des Staatsgebiets – Nomen est Omen – liegt seit Jahrhunderten nahe oder unterhalb des Meeresspiegels. Schon um das Jahr 1000 begannen die Menschen an der Nordseeküste mit Eindeichungen. Holländische Ingenieure sind seit dem Mittelalter berühmt für ihre Kompetenz im Wasserbau.

Wie lebensnotwendig Küstenschutz ist, wurde den Holländern zuletzt 1953 klar. Bei einer schweren Sturmflut brach das Deichsystem an 60 Stellen, mehr als 1.800 Menschen ertranken. Diese schwerste Flutkatastrophe seit über 500 Jahren bewog die Regierung dazu, das „Delta Projekt“ zu entwickeln, eine Kette von riesigen Küstenschutz-Bauwerken. Es war 1997 abgeschlossen.
Doch die Deltawerke sind zu schwach gegen den Anstieg des Meeresspiegels der kommenden Jahrzehnte, befürchtet der Ingenieur Dick Butijn. Sein Vorschlag: ein Damm, mit 19 Metern Höhe rund doppelt so hoch wie die meisten Nordseedeiche. Das gigantische Bauwerk soll sich 25 Kilometer vor der Küste entlangziehen und in einer weiteren Ausbaustufe von Calais bis Göteborg in Schweden reichen. Sein Name: De Haakse Zeedijk (Haak-Seedeich).
Bisher noch keine konkrete Entscheidung
Benannt hat der Ingenieur das gigantische Bauwerk gegen Sturmflut nach seinem verstorbenen Kollegen Rob van den Haak, der 2003 die Idee entwickelte. Butijn kooperiert mit dem „Forschungsprogramm zum Anstieg des Meeresspiegels“ (Kennisprogramma Zeespiegelstijging), angegliedert an das niederländische Ministerium für Infrastruktur und Wasserwirtschaft. Hier macht man sich seit geraumer Zeit ernsthafte Gedanken, wie die Zukunft zu bestehen ist.

Bisher war das Engagement der beiden Ingenieure zu hundert Prozent privat. Doch 2019 präsentierte Dick Butijn den Plan erstmals der Delta-Kommission, die als erste Instanz im Flutschutz auch ein Auge auf die zukünftigen Abwehrmaßnahmen hat. „Sie waren sehr interessiert“, so Butijn zu float.
„Im Forschungsprogramm wird der Haak-Seedeich als eine der potenziellen Abwehrmaßnahmen betrachtet“, sagt Jos van Alphen, Mitglied der Delta-Kommission, gegenüber Float. Weitere denkbare Szenarien seien zum Beispiel „Verschluss der Flussmündungen“ oder „Geordneter Rückzug“ von der Küstenlinie. „Wir beschreiben ihre Folgen für Flutschutz und Süßwasserversorgung, bewerten ihre Auswirkungen auf andere Lebensbereiche und natürlich die Kosten.“
Für eine bestimmte Strategie habe man sich bisher nicht entschieden. „Es ist noch nicht dringend, zumal viele Fragen offen sind“, so van Alphen. Er rechnet damit, dass in den kommenden Jahrzehnten Entscheidungen zu treffen seien. Was in 20 Jahren getan wird, sei abhängig davon, wie sich Meeresspiegel-Anstieg und Klimawandel aktuell weiter entwickeln.
Parallelen zum Einschlussdamm-Projekt
Das Vorhaben weckt Assoziationen zum „Nordeuropäischen Einschlussdamm“ (NEED). Anfang 2020 schlugen zwei Wissenschaftler vor, die Nordsee mit einem gigantischen Bauprojekt über 660 Kilometer sehr großräumig einzudeichen. Doch die Studie vom Geomar sollte vor allem ein Weckruf sein, um entschlossenere Schritte gegen den Klimawandel zu bewirken – wenn auch der Wissenschaftler Sjoerd Groeskamp, der ebenso wie Butijn mit dem Meeresspiegel-Ausschuss kooperiert, und sein Kollege Joakim Kjellsson recht konkrete Berechnungen anstellten. Inklusive der Prognose, dass der Bau hundert Jahre dauern würde.

Der holländische Haak-Seedeich dagegen ist erheblich konkreter und mit deutlich weniger Aufwand zu realisieren. „NEED ist technisch schwierig zu bewerkstelligen, so beträgt die Meerestiefe vor Norwegen 300 Meter. Unser ‚Europäischer Seedeich‘ dagegen würde in maximal zwanzig Meter Tiefe entstehen“, so Dick Butijn zu float.
Überdies könnte der Haak-Seedeich ein rein holländisches Bauwerk gegen Sturmflut sein, während NEED ein multinationales Projekt wäre, einschließlich politisch unsicherer Kandidaten wie Russland oder Großbritannien. Zuletzt würde sich sein Projekt, so glaubt Butijn, vom ersten Baufortschritt an auszahlen. NEED dagegen verursache anfangs nur hohe Kosten. Der Nutzen käme erst sehr viel später.
Die Lage des Haak-Seedeichs so weit vor der Küste dient nur vordergründig als Wellenbrecher: Das Bauwerk soll auf diese Weise überdies das Süßwasser Hollands schützen.
Schutz des Hinterlandes vor Versalzung
Denn der Klimawandel führt nicht nur zu Wetteränderungen und einem steigenden Meeresspiegel, sondern bewirkt automatisch auch ein Ansteigen der Flusspegel. Durch das Vordringen des Salzwassers ins Landesinnere ist mit einer Versalzung großer küstennaher Flächen zu rechnen. Um das zu verhindern, ist das Areal zwischen dem Haakse-Bauwerk und den ehemaligen Seedeichen als riesiges Staubecken für Flusswasser vorgesehen.
Butijn nennt diese Zone „Süßwasserpuffer“. Bei einer zukünftigen Sturmflut sollen die Fluten der Flüsse wie Rhein, Maas und Schelde nicht mehr in die Hochwasser führende Nordsee fließen. Sie könnten dann in das Speicherbecken umgeleitet werden. Bis zu 40 Stunden, so seine Berechnung, wäre das möglich. Damit würde der Haak-Seedeich zukünftig die Aufgabe der Deltawerke übernehmen.

Diese Lösung hat den Nebeneffekt, dass ein großer Süßwasservorrat entsteht, der zum Beispiel für die Landwirtschaft verwendet werden könnte. „Wir sind im Gespräch mit den Landwirten, die unsere Idee sehr interessant finden“, führte Butijn gegenüber dem Magazin Omroepzeeland aus. Die drei Becken zwischen der heutigen Küste und dem Seedeich sollen aber auch umgekehrt bei einem Flusshochwasser die Speicherfunktion übernehmen und so die Bevölkerung schützen.
Zwei Milliarden Euro Baukosten jährlich
Die Kosten für einen solchen neuen Deich für die niederländische Küste würden etwa 92 Milliarden Euro betragen, hat Butijn ausgerechnet. Etwas billiger als der fantastische Nordeuropäische Einschließungs-Deich, den das Geomar auf 250 bis 500 Milliarden Euro schätzt. Der Holländer hält das für tragbar, zumal ja nicht alles auf einmal anfiele.
Die Investition würde, so führt der Ingenieur aus, maximal zwei Milliarden im Jahr kosten. Für den Schutz bestehender Anlagen gegen Sturmflut und Flusshochwasser geben die Niederlande jährlich ebenfalls eine Milliarde aus. Hinzu käme die Ertüchtigung der Flussdeiche und Pumpwerke sowie Erhöhung von Brücken, die andernfalls notwendig würde.

Butijn hat bereits an über-übermorgen gedacht: In 80 Jahren würde der Haak-Seedeich von Calais bis Göteborg reichen, sich folglich an der deutschen Nordseeküste, an Jütland und über das dänische Seeland entlanghangeln. Gesetzt den Fall, der Meeresspiegel würde kontinuierlich ansteigen, um zu diesem Zeitpunkt 1,10 Meter höher als heute zu liegen. Hoffentlich kommt es dazu nicht.
Aktualisiert am 25. Oktober 2023. Dieser Text erschien am 1. Februar 2023 erstmals auf float.