2:15 Uhr. Der Wecker klingelt. Es ist eine dieser Weckzeiten, die gar nicht gehen. Die Augen fühlen sich an, als seien sie mit Industriekleber zusammengeklebt worden. Langsam kehrt Leben an Bord ein. Denn nicht nur mein Wecker klingelt, auch die der anderen zwei Crewmitglieder. In den Zeiten von Smartphones gehen alle Uhren gleich und alle drei Wecker klingeln exakt zur gleichen Sekunde – mit unterschiedlichen Wecktönen. Wir müssen um 3 Uhr mit der „Belletap“ (Etap 28i) ablegen, weil dann die Tide kippt. Also schnell einen bis drei Kaffee trinken und Leinen los.
Zwei Tage zuvor wollten wir bereits in Wedel mit Etappenziel Cuxhaven auslaufen, aber der Starkwind blies unsere Pläne fort. Außerdem schafft man die rund 70 Kilometer nicht mit einer ablaufenden Tide, also bleibt nur der empfehlenswerte Zwischenstopp in Glückstadt. Nun also, um 3 Uhr, können wir ablegen. Wir werden in Glückstadt nur sechs Stunden halt machen, um mit dem nächsten Tiden-Slot nach Cuxhaven zu fahren.
Mitten in der Nacht auf der Elbe – wie ist das? Schnell und einfach, um es kurz zu machen. Der oft erwähnte starke Schiffsverkehr ist gar nicht so stark, und die großen Pötte sind ausreichend weit weg, wenn man sich außerhalb des Fahrwassers entlanghangelt. Das haben wir uns wesentlich stressiger vorgestellt. Auf der Gegenseite warten eine „Aida“ sowie „Mein Schiff“, um rechtzeitig mit der Morgensonne in Hamburg einzulaufen. Man muss den Gästen ja etwas bieten.
Der Verkehr ist übrigens auch später auf der Nordsee nicht schlimm. Das oft gefürchtete Verkehrstrennungsgebiet (VTG) ist weniger stark befahren als wir dachten. Die Querung ist recht unproblematisch.
Gegen acht Uhr erreichen wir Glückstadt. Der Ort macht seinem Namen alle Ehre, denn im Vorhafen wird gerade nach unserer Ankunft eine Box frei. Die Brücke/Schleuse zum Innenhafen öffnet erst mittags. Bis auf den Supermarkt und einen Bäcker sehen wir von Glückstadt nichts, weil wir ausschlafen. Frühes Aufstehen plus Tide verhindert Sightseeing.
Eierkocher Elbe
Um 15 Uhr geht es weiter. Man legt immer eine halbe bis eine Stunde vor dem Hochwasser ab, denn dann ist die Strömung gering. Anschließend ist eine Stunde lang kaum Strömung zu bemerken, bevor ein echter Schub einsetzt. So rauschen wir ein paar Stunden später an Brunsbüttel vorbei. Dort allerdings wird es ruppiger, denn der Wind hat aufgebrist und kommt uns mit 25-30 Knoten entgegen. Das bedeutet, dass Wellen in die Elbmündung laufen und dort auf den Strom treffen. Dadurch entsteht ein Wellenbild, was wir so noch nie gesehen haben. Wie ein Eierkocher sieht das aus.
Wir sind Ostsee-Segler, da kennt man nur die kleinen, fiesen Hackwellen. Diese hier aber haben weder eine logische Richtung noch bewegen sie sich. Sie stehen teilweise auf der Stelle, bauen sich auf und brechen dann. Je mehr wir uns Cuxhaven nähern, desto wilder wird es. Das Boot klatscht immer tiefer in die Wellentäler ein, und eine Welle nach der anderen kommt uns im Cockpit besuchen. Der Motorhebel bietet die Lösung, denn mit der richtigen Geschwindigkeit wird es besser. Bei drei Knoten Schub von hinten muss man das Boot künstlich verlangsamen, um kein Schleudertrauma zu bekommen. Abbremsen hat jedoch den Nachteil, dass wir Gefahr laufen, ein paar Meilen vor Cuxhaven in der kippenden Tide zu verhungern und gegen die einlaufende Flut kämpfen müssen. Wir schaffen es jedoch und sind eine halbe Stunde vor Niedrigwasser da.
Nach einem Hafentag in Cuxhaven legen wir wieder nachmittags ab. Man ist hier immer an die 12-Stunden-Rhythmen gebunden: Einfach aufstehen, frühstücken, duschen und dann ablegen geht hier nicht. Ebbe und Flut bestimmen, wann wir los können. Wir wollen zunächst bis Borkum, um von dort in einem Schlag nach Ramsgate in England zu segeln. Natürlich segelt man außen um die Ostfriesischen Inseln herum, um längere Strecken zu machen. Man kann zwar, bei ausreichend Zeit, auch zwischen Küste und Inseln hindurch. Aber es ist mit erheblicher Tiden-Rechnerei verbunden, außer man kann sich trocken fallen lassen. Hier kann es richtig gefährlich werden, wenn man sich mit Ebbe und Flut vertut.
In Cuxhaven müssen wir ein Kabel in einer Werft reparieren lassen. Oben an Land stehen zwei Schiffe, eine riesige 46-Fuß-Yacht, nagelneu. Sie ist gerade auf eine Sandbank gelaufen und hat sich den Kiel eingedrückt, zwei Wrangen sind kaputt. Daneben liegt ein Stahlschiff, das eben erst ein aufwändiges Refit bekommen hat und vor Wangerooge gestrandet ist. Der Hubkiel ist abgebrochen und das Schiff konnte erst nach zwei Wochen geborgen werden. Der Mitarbeiter erzählt uns, dass innen im Boot reichlich Wasser stand. „Das Boot war voller Aale, Krebse und Fische. Da hätte man eine Mahlzeit draus machen können.“ So etwas passiert hier offenbar häufiger.
Den rund 100 Seemeilen langen Schlag nach Borkum machen wir recht flott – allerdings die meiste Zeit unter Maschine, weil der Wind am Abend ausgeknipst wird. Wellen: Keine. Einziges Vorkommnis: Vor der Einfahrt nach Wilhelmshaven ist eine riesige, vollgeparkte Reede. Bereits 15 Seemeilen vorher sieht man dort etwas, das zunächst aussieht wie ein paar Schiffe, dahinter eine Insel. Später stellt sich heraus, dass die „Insel“ weitere Schiffe sind, die hinter den anderen im Dunst verschwimmen. In der Dunkelheit passieren wir diese Ungetüme, die wie Weihnachtsbäume leuchten. In der Ferne sehen wir sie im seeseitigen VTG immer wieder und fahren stundenlang an Windparks vorbei, die mit ihren roten Blinklichtern wie ein Sci-Fi Szenario aussehen. Landseitig reihen sich Fischerboote aneinander. Ein wahres Getümmel hier in der Nacht. Schön irgendwie, überall sieht man Lichter.
Im Morgengrauen haben wir Borkum querab. Auch ohne Plotter oder Karte würde man das allein daran merken, dass hier ein Versorgungsschiff nach dem anderen rein- und rausfährt. Superschnelle Kats ziehen an uns vorbei, alle auf dem Weg zu den Offshore-Parks und Ölplattformen. Zu diesem Getümmel kommen die Lotsen.
Borkum selbst erreichen wir später als gedacht. Natürlich kommt uns, gerade als wir einbiegen, die Tide entgegen, dazu wieder die Hackwelle. Noch kapriziöser gestaltet sich die Ansteuerung in das Fahrwasser zum Schutzhafen. Auf der Karte sieht es aus wie ein Kanal. Nur ist es keiner, denn da, wo man Land vermutet, ist eine Sandbank, und die ist gerade unter Wasser. Erst im letzten Moment erkennen wir das und biegen ein.
Pinnenpilot im Grenzbereich
Zwei Uhr. Wieder klingelt der Wecker so verdammt früh. Natürlich weil es die Tide so will. So laufen wir am nächsten Morgen gegen drei Uhr aus, wir alle sind sehr müde. Sechs Stunden segeln wir mit Halbwindkurs Richtung England. Alles fühlt sich hier anders an. Die Wellen laufen achterlich ein, und das Boot rollt stärker, als man das von der Ostsee kennt. Der Windpilot verrichtet seine Arbeit gut, muss aber erhebliche Korrekturen vornehmen. Spaßiges Segeln mit Strom von hinten und Surf in den Wellen.
Dann ist der Wind wieder weg. Und zwar für geschlagene zwölf Stunden. Jeder kann sich in etwa vorstellen, was es bedeutet, für einen so langen Zeitraum unter Maschine mit zwei Metern See von achtern herumzudümpeln. Der Pinnenpilot kommt an seine Grenzen. Alles fliegt herum, das Boot hat ohne Wind und Stützsegel wenig Stabilität, so dass es von einer auf die andere Seite rollt. Dazu nimmt uns nun die Strömung eine Menge Fahrt. Daran muss man sich gewöhnen: Sechs Stunden fährt man mit acht Knoten über Grund, dann kippt es wieder und man fährt nur vier Knoten. Das gleicht sich zwar aus, aber schön ist anders. Vier Knoten Fahrt unter solchen Bedingungen können frustrierend sein.
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang geben wir auf, denn der Wetterbericht sagt auch für den nächsten Tag Windstille voraus. Das Motoren und Rollen haben uns mürbe gemacht. Wir haben Texel querab und entscheiden, Den Helder anzulaufen und nicht in einer Rutsche nach England zu segeln. In Luftlinie liegt der Hafen Den Helder nur neun Seemeilen von uns entfernt. Da auf dem Weg dorthin noch einige Flachs und Sandbänke passiert werden müssen, sind es noch 19 Meilen. Weil uns (natürlich) im Fahrwasser die Tide wieder von vorn erwischt, dauert diese Fahrt noch geschlagene acht Stunden. Als wir weit nach Mitternacht im Hafen anlegen, denke ich schon wieder an den Tidenkalender für den nächsten Tag und überlege, ob man ausschlafen kann. Helge Schneider würde sagen: „Da wirste bekloppt von im Kopf.“
Fazit
Nach insgesamt 18 Tagen komme ich zum Fazit: Nein, das hier wird sicher nicht mein Lieblingsrevier. Mir ist es zu abhängig von Ebbe und Flut. Es ist der Luxus der Ostsee, morgens ausschlafen zu können und abzulegen, wann man Lust hat – und nicht auf den Tidenkalender schauen zu müssen, wann es möglich ist. Segler sind immer von Windstärke und -richtung abhängig. Kommt die Tide dazu, wird alles anders. Es wird komplizierter, es gibt viel mehr zu planen und zu rechnen. Auch weil man nicht einfach jeden Hafen anlaufen kann, wenn man – wie wir – mit 1,70 m Tiefgang unterwegs ist. Zwar hat fast jede Insel einen Hafen, nur kommt man nicht immer rein und muss die richtige Zeit abpassen. Hollands Häfen sind teilweise gar nicht anzusteuern, weil sie einfach irgendwann dicht machen, wenn es zu voll ist.
Mit dem richtigen Schiff, beispielsweise einem Kimmkieler, ist die Nordsee sicher ein interessantes Revier. Ich aber bin durch die Ostsee sehr verwöhnt und die Nordsee nicht gewohnt. Vielleicht bekommt sie noch mal eine Chance, denn die langen Wellen sind echt toll. Nur das mit dem Wecker, das brauche ich echt nicht.