Der Ostsee geht der Sauerstoff aus. Sie droht zur umfassenden Todeszone zu werden. Dagegen geht das Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel mit Hilfe von „Citizen Science“ vor, also der Bürgerbeteiligung bei der Wissenschaft. Beim technisch ambitionierten Projekt SeaStore Seagrass Restoration sollen Amateur-Taucher Seegraswiesen umpflanzen. Weniger Spezialexpertise verlangt das Projekt Sailing for Oxygen unter der Leitung von Geomar-Ozeanograph Dr. Toste Tanhua.
Daten angeln
Jedem überlegten Handeln geht die Erhebung der Faktenlage voraus. Daten müssen her. Sie sollen bei Sailing for Oxygen von den Bürgern kommen. Die Rekrutierung findet über den Partnerverein Trans-Ocean statt. Annonciert wurde das Projekt Anfang Juni, seit Mitte August läuft die aktive Phase. Die registrierten Bootsbesitzer werden mit einer Messsonde an einer Angel ausgestattet.
Eine Broschüre informiert über die regelgerechte Anwendung. Die Sonde senken die Crews auf ihrem Törn in der Ostsee bis auf den Grund, maximal 100 Meter, ab (im angepeilten Messgebiet zwischen Kieler Bucht und Kleinem und Großem Belt stößt man spätestens bei 30, 40 Metern auf Grund). Die erhobenen Sauerstoffdaten geben sie per Internet ans Geomar Institut durch.

Klingt simpel, hat aber Tücken. Für akurate Daten muss die Sonde möglichst senkrecht hinabsinken. Das ist selbst bei der Minimalgeschwindigkeit eines beigedrehten Schiffs nur eingeschränkt möglich. Die Meeresströmung sorgt zusätzlich für eine schräg laufende Leine. Dagegen hilft nur schnelles Abrollen. Sind die Daten erfasst, veröffentlicht das Institut sie nach einer Qualitätskontrolle als Open Data, wissenschaftlich wasserdicht.
Im nächsten Hafen reicht die Citizen-Science-Crew die Ausrüstung an andere registrierte Interessenten weiter, oder an den Hafenmeister zum Zwischenlagern. Der Bürgerforscher hat auf den Ge- oder Missbrauch der von ihm gesammelten Daten keinen Einfluss. Wenn eine Fast-Food-Kette sie zum Auffinden und Abernten von Seegraswiesen für ihre Veggie-Burger nutzt, bekommt man deshalb noch lange nicht einen Gratis-Burger spendiert. Aber wahrscheinlicher ist die Nutzung für ökologische Zwecke – so sehr sie sich noch im Vagen halten.
Geomar wants you!
Dr. Tanhua bekräftigt, dass die Erfassung einer kritischen Menge an Daten nicht ohne die Mithilfe der Bürger möglich wäre. Bis jetzt haben sich dreißig Interessenten angemeldet. Sailing for Oxygen muss bis Ende der Saison 2023 mit nur zwei Angeln auskommen. Ab 2024 soll auf zehn Angeln aufgestockt werden. Die Angelschnüre der Hobbyforscher werden sich also kaum auf der Ostsee im Gedränge verheddern.

Aber das unentgeltliche Bürger-Engagement rechnet sich. „Wir kriegen viel Wert für wenig Geld“, konstatiert Dr. Tanhua. Eine Woche die Kieler Bucht mit einem Profiteam auszudatieren, würde schnell 4.000 Euro pro Tag kosten. Ob bei Citizen Science nicht die Grenze zu unbezahlter Arbeit verwischen würde, beunruhigt ihn nicht: „Die Teilnahme ist freiwillig. Wir sind ein bisschen auf den guten Willen der Bürger angewiesen. Wenn sie keinen Spaß daran haben, machen sie eben nicht mit.“
Bürgerforscher Boris Herrmann
Prominentester Bürgerforscher im Auftrag des Geomar Instituts ist Vendée-Globe-Solosegler und Ocean-Race-Skipper Boris Herrmann. Für die Regatta durch die Ozeane der Welt war seine Imoca „Malizia Seaexplorer“ mit Messgeräten ausgestattet. „Die Daten von Boris Herrmann sind sehr wichtig“, hebt Dr. Tanhua hervor und ergänzt: „Die Profisegler gehen in Richtung Nachhaltigkeit. Boris Herrmann hat ein echtes Interesse daran, die Ozeane besser zu verstehen, damit man sie besser schützen kann. Auch wenn das Team um die Welt fliegt.“

Zum Kampfbegriff „Todeszone Ostsee“ sagt Dr. Tanhua: „Man kann auch von sauerstoffarmer Zone sprechen. Aber die Lage ist schon dramatisch. Ohne Sauerstoff gibt es keine Tiere mehr, keine Fische, keine Muscheln. Todeszonen sind nichts Neues, sie existierten schon vor der Menschheit, aber ihre Anzahl nimmt zu und sie sind viel größer geworden. In der Ostsee liegt es daran, dass wir zu viel Düngemittel einleiten.“
Als weiteren Problemverursacher macht er die Fischerei aus, die sich selbst ihre Grundlagen abgräbt: „Sauerstoffmangel beeinträchtigt die Fischerei. Mit einer sicheren Datenlage könnte man sie besser informieren.“ Allerdings findet Berufsfischerei in der deutschen Ostsee kaum mehr statt: „Das ist ein Thema, bei dem man über die Grenze sehen muss“, lenkt Dr. Tanhua ein.


Eine strengere Regulierung von Verbrennermotorbooten hält er nicht für angezeigt. Die Emissionsgrenzwerte würden ständig verschärft, Zweitakter seien so gut wie Geschichte und den Rest regelt der Benzinpreis.
Perspektiven
Auf das ungeduldig eingeworfene Marx-Zitat „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ entgegnet er: „Wenn man das Problem lösen will, braucht man die Daten, muss wissen, wie der Stand der Dinge ist. Das gilt für jedes Firmen-Management – und eben auch für die Ostsee.“
Ohne Bürgerbeteiligung lassen sich diese Daten nicht erheben. Und neben dem Spaß, den Dr. Tanhua für die Citizen-Science-Beteiligung in Aussicht stellt, winkt vielleicht auch der Ruhm. Wer oft genug an Citizen-Science-Projekten teilnimmt, könnte sich für die Aufnahme in den so ehrwürdigen wie exklusiven New Yorker Explorers Club bewerben, als Mitglied neben Ernest Shackleton, Jane Goodall oder Reinhold Messner. Auf trans-ocean.org/sailingforoxygen gibt es Anmeldung zu Sailing for Oxygen.