Plötzlich standen sie vor dieser unüberwindbar erscheinenden Masse aufgeschichteten Treibeises. Statt eines tagelangen Umwegs auf der Suche nach einem Durchgang entschieden sie sich zu warten. Wie durch ein Wunder öffnete sich schon einen Tag später eine Rinne offenen Wassers direkt vor ihnen. Die Segel gesetzt und losgefahren – bis zur nächsten Eisscholle, auf die sie den 500-kg-Katamaran ziehen, wuchten und zerren, um ein paar hundert weitere Meter auf dem Eis Richtung Nordpol zu segeln.
Der Nordpol übte schon immer reichlich Anziehungskraft aus. Nein, wir meinen nicht die Kraft, nach der sich auf den Kompassen dieser Welt die Magnetnadeln ausrichten, sondern wir sprechen von der anderen, der emotional geprägten Anziehung. Diese Kraft, die Menschen seit Jahrhunderten umtreibt und in Richtung 0,00 lockt – ganz oben auf dem geografischen Scheitel unseres Planeten.
Seit dem 14. Jahrhundert versuchen Menschen in den hohen Norden zu gelangen. Meist war die Gier nach Reichtum der Grund für diese Sehnsucht, da man irgendwo dort oben eine Durchfahrt nach China oder Indien vermutete. Erst später war es der Ruhmesrausch, der Abenteurer und Besessene zum nördlichsten Punkt der Erde, dem geografischen Nordpol, trieb.

Vom Schlitten bis zum Atom-U-Boot
Was wurden dabei nicht alles für Gefährte eingesetzt! Zu Beginn nur im Rumpf verstärkte Segelschiffe, die am ersten Packeis scheiterten. Später Schlitten, die auf Inuit-Art von Hunden gezogen wurden. Oder sogar bekufte Untersätze, vor die Rentiere geschirrt wurden. Leichte Kajaks, bezogen mit Robbenfellen, mit denen die Wasserrinnen überwunden werden konnten und die sich gut übers Eis ziehen ließen, waren frühe Erfolgsgeschichten.
Bis dann das Maschinenzeitalter einsetzte: Gas-Ballons flogen übers Packeis gen Nordpol, genauso wie Zeppeline und Flugzeuge. Unterm Eis schwammen U-Boote, gerne auch mit Atomantrieb. Es gibt Drift-Stationen, die auf Eisschollen aufgebaut werden und durch Unterwasserströmungen zum Nordpol treiben. Seit wenigen Jahren werden sogar Charterflüge zum geografischen Nordpol angeboten. Von dem seit 2013 jährlich organisierten Marathon rund um den Pol ganz zu schweigen.
Vortrieb durch Windkraft – auf Wasser und Eis
Und dann gibt es da eben diese drei Franzosen, die am 20. Juni Richtung Nordpol aufgebrochen sind. Sie wollen von Alaska zum nördlichsten geografischen Punkt der Erde segeln und schließlich ihren Törn auf Spitzbergen beenden. Nicht mehr und nicht weniger.

Moment mal, wie soll das denn gehen? Schließlich ist die nördliche Polkappe meist ein riesiges Eisfeld, durch das sich nur wenige Wasserrinnen oder -flächen schlängeln. Und selbst wenn die Wasserflächen klimawandelbedingt mitunter Bodenseegröße erreichen: Ist da die Passage per Segelboot nicht allzu optimistisch gedacht?
„Der Clou unserer Expedition ist das Boot und seine vielseitige Einsetzbarkeit“ erklärt Sebastien Roubinet, der Leiter und Vordenker der Expedition La Voie du Pole – der Weg zum Pol. „Es ist eine Art Hybrid und kann im Wasser und auf dem Eis segeln!“ Vortrieb durch Windkraft auf dem Wasser im flüssigem und festen Aggregatzustand – im Prinzip eine simple, aber bestechende Idee.

Zehn Jahre Vorbereitung, zwei Jahre Bauzeit
Doch was Roubinet da nach zehn Jahren Vorbereitung und knapp zwei Jahren Bauzeit im legendären Yachthafen „La Base“ von Lorient (Bretagne) einer überschaubaren Zuschauermenge auf dem Strand von Barrow (Alaska) präsentierte, ist auf den ersten Blick alles andere als eine filigrane Hightech-Segelmaschine, wie viele Fans des französischen Abenteurers es erhofft hatten. Vielmehr wirkt das Gefährt klobig und unhandlich. Der erste Eindruck täuscht jedoch gründlich!
Tatsächlich ist Roubinet in jahrelanger Feierabend-Arbeit ein spannendes Stück innovativer Bootsbaukunst gelungen. Der sieben Meter lange Katamaran ist mit aufblasbaren Schwimmern versehen und somit per se sehr leicht. Die Außenhaut der Schwimmer muss extrem robust sein, damit sie den Stößen gegen Eiskanten standhält. Roubinet vertraut seit Jahren dem Kompositmaterial Innegra, das eigentlich für Expeditionskanus verwendet wird. Mit Segeln, Carbon-Mast und Quergestänge wiegt das Boot dann aber doch knapp 300 kg.

Die aufgesetzte Kajüte, nur zwei Kubikmeter klein, soll während der Expedition immerhin drei Männern Schutz vor auftretenden Wetterunbilden und Eisbären bieten. Zudem werden auf dem Kat Nahrungsmittel für bis zu vier Monate transportiert, dazu Werkzeug und reichlich Ersatzteile – über 200 kg zu Beginn der Expedition. Unter den Schwimmern sind Kufen angebracht. So ist die Fortbewegung auf Wasser in jeder Form möglich, egal ob flüssig oder gefroren. Auf Eisflächen, die mit einer dickeren Schicht Schnee bedeckt sind, können in den Schwimmern versenkbare Ski ausgefahren werden.
Dann kommt noch ordentlich Segelfläche drauf: 22 qm am Wind und 45 qm unter Gennaker. Und schon läuft der Hybrid übers Eis und durch die Welle, zumindest während der Testphasen. Die Tests fanden auf zugefrorenen Ostsee-Meeresbuchten in Skandinavien statt. Genau dort, wo das Eis meist „black“ respektive glatt ist und wo sich auch gerne mal Eissegler für ihre Highspeed-Rennen treffen.
Turmhohe Barrieren aus Eis

Doch in der Arktis ist die Situation ganz anders. Dort sind Eisflächen nur selten richtig besegelbar, wie es Flugzeug- und Satellitenaufnahmen suggerieren. Die Realität in der Arktis sieht meistens so aus: Ein Chaos aus ineinander- und übereinander geschichteten Eisplatten, meter- bis turmhohe Barrieren aus Eis und Schnee, die sich über Kilometer hinweg ausbreiten. Dazwischen dann wieder klaffende Spalten im meterdicken Eis. Schollen, die einen halben Meter unter der Wasseroberfläche treiben. Eine Mischung aus Sulz, Eis, Schnee und undefinierbarem Halbgefrorenem.
Über all’ das muss der segelnde Wasser- und Eishybrid gewuchtet, geschoben, gezogen und gezerrt werden. Oder man nimmt kilometer- und tagelange Umwege in Kauf, um irgendwo zwischen diesem Chaos eine Lücke zu finden, durch die das Boot geschoben werden kann, wonach es wieder den einen oder anderen Kilometer – auf Wasser oder Eis – weiter segelt. Zudem droht ständig Gefahr, von schlecht gelaunten, weil aufgrund des Klimawandels meist hungrigen Eisbären angefallen zu werden. Apropos Hunger: Gewürzt wird das Ganze mit einem enorm hohen Kilokalorienverbrauch bei jedem der drei Expeditionssegler: Die Plackerei mit dem Boot verbrennt viel Energie, die permanente Kälte fordert nicht nur psychologisch ihren Tribut.

Eine extrem erfahrene Crew
Nun könnte man meinen, dass Roubinet, André und Vincent Colliard diese Expedition etwas blauäugig angehen und sich auf eine naive Weise Gefahren aussetzen, von denen sie nicht den Hauch einer Ahnung haben. Das Gegenteil ist der Fall: Vor allem Sebastien Roubinet gilt mittlerweile als Arktis-Kenner, seine Abenteuer und Expeditionen im Hohen Norden haben ihm vor allem in Frankreich und Kanada hohe Anerkennung gebracht. Er gilt als ein „Typ, der weiß, was er macht“. Allein seglerisch bringt Roubinet reichlich Erfahrungen ein: Er segelte in jungen Jahren auf einem Hobie-Kat 2.000 Seemeilen in zwei Monaten rund Skandinavien, nahm an der Mini Transat teil und war Skipper auf dem französischen Expeditionssegler „Tara“.


2007 gelang ihm auf einem ähnlichen Katamaran wie bei der jetzigen Expedition als erstem Segler ohne jeglichen Motorantrieb die Durchquerung der Nordwestpassage – 5.000 Seemeilen in vier Monaten). Und bereits zweimal machte er sich mit einem weiteren Mitstreiter auf den Weg zum Nordpol – und scheiterte! 2013 konnten er und sein Partner nur gerettet werden, weil ein russischer Eisbrecher zufällig in der Nähe war, als sie – vom Packeis eingeschlossen – keinen Ausweg mehr wussten.
Vincent Colliard gelangte schon auf Ski bis zum Nordpol, er bestieg Achttausender in Nepal und schaffte ebenfalls die Nordwestpassage, allerdings auf einem 20-Meter-Trimaran. Und Eric André ist Ausdauersportler mit Fokus auf nördliche Regionen. Er fuhr bereits kreuz und quer auf dem Velo durch Alaska und war streckenweise bei der Nordwestpassagen-Fahrt von Roubinet dabei.
Schnelle Wetterwechsel – Glück oder Pech?
„Wie bei allen Extrem-Expeditionen überall auf der Welt gilt auch hier: Man muss mindestens soviel Glück wie Verstand haben. Und jede Menge Geduld“, erklärt Roubinet kurz vor der Abfahrt in Alaska seinen wenigen Zuschauern. „Denn vor allem hier im Norden bringt das Wetter erfahrungsgemäß schnelle Änderungen der Gesamtsituation – im Guten wie im Schlechten.“