Schleswig, Anfang März 2018. Am Ufer der idyllischen Schlei sieht man Menschen in Warnwesten, Gummistiefeln und Arbeitskleidung. Die einen ziehen mit Haken umher, die anderen legen 1×1 Meter große Holzrahmen auf die Wiesen und ins Schilf. Ganze Trupps ziehen so an den Ufern des Ostseefjords umher. Ihre Mission: Plastikteilchen aufsammeln respektive erfassen.
Denn entlang der Schlei sieht es teilweise aus, als wäre ein großer Rosenmontagszug umher gefahren und hätte Konfetti verstreut. Die ganze Fjord-Region ist mit kleinen bunten Plastikteilchen übersät. Mittlerweile kommen die farbigen Frakturen laut Anwohnern schon im rund 35 Kilometer entfernten Kappeln an. Wind und Strömung verteilen die Partikel fast unkontrolliert.
Biomasse mit Plastikanteil
Grund des Müllskandals ist etwas, das eigentlich nach sauberer Umwelt klingt: Strom- und Wärmegewinnung aus Biomasse. In dem Faulturm des Schleswiger Klärwerks werden durch Gärprozesse Wärme und Energie gewonnen. Seit 2007 dürfen dem Faulschlamm maximal 49 % Speisereste zugesetzt werden. Dieses Verfahren gilt gemeinhin als sauber und wird dank des Erneuerbare-Energien-Gesetz gefördert.

Die Stadtwerke Schleswig beziehen die Speisereste seit 2017 vom Recyclingunternehmen ReFood. ReFood sammelt gegen Gebühr Reste aus der Gastronomie und von Supermärkten, häckselt sie in einer sogenannten Hammermühle und verkauft Teile davon weiter. Über die Kläranlage in Schleswig gelangte der Plastikmüll nun in die Schlei. Trotz angeblich feiner Filteranlagen. Niemand weiß derzeit, wie das passieren konnte.
Zwischen den Stadtwerken Schleswig und ReFood wird die Verantwortung nun hin- und hergeschoben. Die Stadtwerke behaupten, die Speisereste dürfen laut Vereinbarung gar keine Reststoffe enthalten. ReFood, deren Website auffällig grün inszeniert ist, widerspricht dem. Man weist auf den Vertrag hin, nach dem offenbar Fremdbestandteile, sprich Verpackungsmüll, enthalten sein dürfe. ReFood hat bereits erklärt, den geheimen Vertrag öffentlich machen zu wollen. Dem haben die Stadtwerke jedoch offenbar widersprochen. Mittlerweile ermitteln das Landeskriminalamt und die Staatsanwaltschaft.
Aktionismus?
Bereits 2016 meldete eine Anwohnerin aus der Region Verunreinigungen durch Plastik. Damals wurde jedoch kein Verursacher gefunden. Die Kläranlage wurde seinerzeit nicht in Betracht gezogen. Man vermutete andere Ursachen. Anfang Januar 2018 informierte die Anwohnerin erneut die Behörde. Bei der genaueren Untersuchung wurde die Kläranlage als Verursacher der Verschmutzung ermittelt. Die Kreisumweltbehörde nimmt zwar regelmäßig Proben vom Klärwasser, das in einer abgelegene Schlei-Aue im Wald eingeleitet wird. Feststellen konnte man allerdings immer nur tadellose Wasserqualität. Auf Plastikteile wurde das Wasser dabei nicht untersucht.
Als erste Reaktion wurde in der Kläranlage ein neues Filtersieb eingebaut, das den größten Teil des Plastiks auffängt. Teilchen unter zwei Millimetern Größe gelangen jedoch immer noch nach außen. Es stellt sich die Frage, weshalb der Faulturm nicht sofort gestoppt wird. Stattdessen scheint man in Kauf zu nehmen, weiterhin fein gehäckselte Kunststoffverpackungen in die Umwelt zu leiten.
Öffentlich wurde der Skandal, nachdem Anfang März der Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND) den NDR einschaltete. Dadurch erfuhr auch der Schleswig-holsteinische Umweltminister Roland Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) davon. Zu dem Zeitpunkt waren allerdings schon rund 100 Kilometer Uferlinie betroffen. Habeck selbst machte sich letzte Woche ein Bild vor Ort und sprach von „erschreckenden Mengen“, die er gesehen hätte.

Tatortreiniger stören Vogelbrut
Nachdem der Fall an die Öffentlichkeit gelangt war, wurde sofort reagiert. Unter anderem mit den Reinigungsmaßnahmen. Ole Eggers, Geschäftsführer des BUND in Schleswig-Holstein: „Die Reinigungstrupps bewegen sich meist in hoch sensiblen Gebieten und stören das beginnende Brutgeschäft. Dadurch wird alles noch schlimmer. In den Reetstreifen befinden sich ganze Ökosysteme, die jetzt durch den Einsatz von Harken, Schaufeln und Bausaugern beseitigt oder zerstört werden.“ Geharkt und gesaugt wurde in Gebieten, in denen der Zutritt aus Naturschutzgründen sonst strengstens untersagt ist.
„Der Presse soll das Bild vermittelt werden, es werde etwas getan.“
(Ole Eggers, BUND)
Bislang ist nicht bekannt, wie viel Plastik überhaupt in die Umwelt gelangen konnte. Vor ein paar Tagen wurden Tauchgänge zur Prüfung verschoben, weil die Schlei wieder zugefroren ist. Reinigungstrupps laufen mit Harken und Bausaugern durchs Schilf. Mit den Holzrahmen versucht man, die Belastung zu erfassen, hochzurechnen und zu kartographieren. Der starke Ostwind der vergangenen Tage hat den Fjord vielerorts über die Ufer steigen lassen, Reetstreifen und Grünflächen wurden überspült. Auch viele private Grundstücke sind davon betroffen. Die Schleswiger Kreisverwaltung verschickte eine kurze Pressemitteilung: „Es besteht die Gefahr, dass Plastikpartikel sich mit Grüngut vermischen. Grundstücksbesitzer dürfen das Plastik-Grüngut-Gemisch auf keinen Fall über die Biotonnen beziehungsweise den Grünabfall entsorgen. Betroffene Grundstücksbesitzer wenden sich bitte zwecks ordnungsgemäßer Entsorgung an die Schleswiger Stadtwerke unter der Telefonnummer 04621/801471.“
BUND-Geschäftsführer Eggers hält die Reinigungsmaßnahmen für puren Aktionismus: „Der Presse soll das Bild vermittelt werden, es werde etwas getan und die Schlei könne auf die Schnelle gereinigt werden. In zwei Wochen schreibt dann niemand mehr über den Skandal, der sich über Jahre auswirken wird.“ Vor allem die Mikroteilchen machen ihm Sorgen. „Die großen Partikel richten erst mal relativ wenig Schaden an. Auch wenn es schlimm aussieht, kann man sie auch zunächst mal liegen lassen. Schlimmer sind die kleinen, mit bloßem Augen nicht sichtbaren Mikroplastikteilchen, die in die Nahrungskette gelangen können und in weitaus größerer Menge unsichtbar im Wasser und am Ufer zu vermuten sind.“
Niedrigwasser offenbart weitere Verunreinigungen
Seit vorgestern hat die Schlei in Schleswig Niedrigwasser und man erkennt nun auch die Partikel, die zuvor unter Wasser waren. Teilweise kann man sogar noch die Beschriftung darauf lesen. Nun tauchen jedoch auch die Klarsichtfolien auf. „Der Teil vom Schilf, der normalerweise im Wasser steht, sieht aus wie mit Tesa beklebt“, schildert Augenzeuge Sven Kraja die Situation. Er hat seine Segelmacherei direkt am Ende des Ostseefjords. Kraja mag sich kaum vorstellen, wie es auf dem Grund der Schlei aussieht: „Ich habe heute morgen mal zum Test ein paar Deckel von Getränkeflaschen in ein Glas Wasser gelegt – einige gingen sofort unter, andere schwammen.“ Eggers teilt seine Einschätzung: „Alles mit einer höheren Dichte als 1g /cm3 sinkt im Wasser. Man kann also davon ausgehen, dass der Grund der Schlei auch verunreinigt ist. Da helfen Gummistiefel und Harken nichts.“

In den letzten Tagen war bundesweit in der Presse vermehrt zu lesen, die Säuberung der Schlei würde „wohl noch Monate dauern“. Die Frage lautet jedoch: Wie soll eine wirksame Säuberung überhaupt aussehen? Wie will man 100 Kilometer Uferlinie mit Schaufeln, Harken und Bausaugern von unzähligen, teils nur Millimeter großen Plastikteilchen reinigen? Weite Bereiche können zudem in den kommenden Monaten nicht mehr betreten werden. Denn die Brutzeit teils sehr seltener Vögel beginnt. In dieser Zeit werden Wind und Wasser die Partikel weiter verteilen – und immer kleiner werden lassen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Verunreinigungen sich komplett werden beseitigen lassen. Dieser Skandal wird die Region sicher noch lange belasten. Monate sind wahrscheinlich die falsche Zeiteinheit.
Wird die Schlei jemals wieder sauber? Eggers vom BUND hat einen Rat: „Wir empfehlen, in sensiblen Bereichen erst einmal gar nichts zu tun und die Natur in Ruhe zu lassen.“ Politik, Fachgutachter und Umweltverbände sollten seiner Ansicht nach stattdessen in den nächsten Monaten gemeinsam ein Schlei-Programm entwickeln, das „angemessen und wirksam“ ist. Er hofft, dass die Politik auch in einem Jahr dazu bereit ist, Geld für die Beseitigung des Schadens zur Verfügung zu stellen. Und zwar in einer angemessenen Summe.