Rechtsanwältin Anna zum Beispiel segelt seit zehn Jahren mit, weil sie es genießt, einfach nur Anweisungen zu befolgen, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Das Schiff ist ihre Abkürzung ins Hier und Jetzt. Auch mir fällt auf, dass ich, seit ich an Bord gekommen bin, an nichts anderes denke als ans Segeln. Nicht mal an meinen Freund, der sich im Vorfeld gesorgt hatte, ob ich überhaupt seefest sein würde.

Die Roald Amundsen als Abkürzung ins Hier und Jetzt © Roald Amundsen
Ich komme einfach nicht dazu, weil ich den ganzen Tag oben an Deck beschäftigt bin und überall mit anpacke, wo eine helfende Hand gebraucht wird. Zwischendurch übe ich Seemannsknoten und versuche beim „Klardeck machen“ die Seile so aufzuwickeln, dass sie keine Achten bilden. Ein bisschen bin ich auf mich selber stolz, wie ordentlich ich das mache, bis Conni zu mir sagt: „Das sieht wirklich schön aus, muss im Ernstfall aber dreimal schneller gehen.“
Alles kann, nichts muss
Zum Glück lautet ein Grundsatz auf der Roald Amundsen: „Jede in ihrem Tempo“. Und ein anderer: „Alles kann, nichts muss“. Das hilft mir, als ich mir nicht zutraue, bei Regen den 36 Meter hohen Mast hinaufzuklettern, um das Segel einzupacken. Erst bin ich enttäuscht, weil ich nur bis zur ersten Saling in zwölf Meter Höhe komme, doch meine Mitseglerinnen überzeugen mich, dass es mutiger ist, sich einzugestehen, wenn man an seine Grenzen stößt.
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Ein Rahsegler kann einen leicht an seine Grenzen bringen © Verena Brüning
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Jessi packt am Bugspriet die Vorsegel © Verena Brüning
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Und wer soll all diese Leinen auseinanderhalten? © Verena Brüning
Im Laufe der Reise verschiebe ich meine Grenzen immer mehr. Ich werde routinierter und schneller. Auch mit den Seemannsbegriffen klappt es besser, zumindest weiß ich stets, wo ich hingucken muss. Und traue mich, wenigstens das Segel auf dem Klüverbaum zusammenzupacken. Hier stehe ich auf einem dünnen Sicherheitsnetz über dem offenen Meer, Wasser spritzt an meine Beine, wenn eine Welle am Bug bricht. Plötzlich spüre ich das tiefe Urvertrauen, dass mir nichts passieren wird.
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Die Stammcrew am Kartentisch © Verena Brüning
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Die Autorin in ihrer Hängematte © Verena Brüning
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Die Maschinistin am Diesel © Verena Brüning
Ich kann sogar den Ausblick auf die Kreidefelsen genießen, die in der Abendsonne schimmern. Jetzt schaffst du es auch, höher ins Rigg zu klettern, denke ich, und nehme mir vor, mich beim nächsten Mal dafür zu melden. Und mir in Zukunft mehr zuzutrauen, um keine Erfahrung zu verpassen, aus Angst, etwas nicht perfekt zu
können.
Hier findet ihr die nächsten Frauentörns in der Ostsee und über den Atlantik.